Um 21.15 Uhr stand die Truppe wie verabredet ordnungsgemäß ausgerüstet am Bus, der uns zur Loubyschlucht bringen sollte. Michael, einer unserer langjährigen Fahrer, der sich bereiterklärt hatte, diese späte Fahrt noch zu unternehmen, fuhr uns sicher durch die Serpentinen zum Absetzpunkt. Die Mädels bedankten sich überaus nett bei Michael, der dann wieder ins Camp fuhr, um seinen wohlverdienten Feierabend einzuläuten.
Da es noch nicht ganz so dunkel war, erzählte uns Romy noch ein paar gruselige Geschichten. Dann kam der Mond über die Berge und ein stimmungsvolles Licht sorgte für die richtige Atmosphäre. Nach der wiederholten Ausrüstungsüberprüfung setzten wir uns im Gänsemarsch in Bewegung. Anders ging es auch gar nicht. Ein kaum zwei Fuß breiter Weg, der teilweise durch stachelige Beerenhecken führte, sorgte für ausreichendes Blutvergießen. Die Mädels waren nicht kleinlich.
Liebe Leser, da es sich bei meiner Nachtwanderung um eine echte Nachtwanderung handelt, bleiben die Taschenlampen selbstverständlich in den Rucksäcken. Zudem benötigen die Teilnehmer zwei freie Hände, um Dornenäste beiseite zu schieben und natürlich um sich bei den Kletterpartien sicher festhalten zu können.
Absolut diszipliniert, anders kenne ich Lenas Mädels auch gar nicht, stiegen wir immer tiefer in die Loubyschlucht zwischen dem Ranc Pointu und Dona Vierna. Die Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. In den Waldstücken konnte uns das Mondlicht nicht mehr erreichen. Aber als wir aus dem Wald den felsigen Teil der Strecke erreichten, war die Helligkeit des Mondes so hilfreich, dass wir den steilen Felshang wirklich schnell hinunter klettern konnten. Selbst bei Tageslicht ist dieses Teilstück sehr schwierig. Für Menschen mit Höhenangst wäre der Abstieg in jedem Fall unmöglich. Die Gruppe unterstütze sich gegenseitig. Immer wieder wurde Hilfestellung gegeben. Meine Anweisungen wurden immer beachtet und sofort umgesetzt. Lena hatte die kluge Idee, alle Teilnehmer der Tour mit Nummern auszustatten. Regelmäßig wurde abgezählt. Bei der Dunkelheit ist es nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten. Wie schnell kann ein Kind unbemerkt in einen Aven fallen. Aven ist das keltische Wort für Schacht. Überall in unserer Gegend sind diese manchmal bis zu zwanzig Meter tiefen und zwei, drei Meter breiten natürlichen Löcher zu finden...
Unsere erste Pause machte wir auf einem Felsplateau der Ardècheschlucht, nachdem wir die Loubyschlucht ohne besondere Vorkommnisse verlassen haben. Die Steine waren von der starken Sonneneinstrahlung warm wie ein Ofen. Einfach faszinierend. Rund um das Plateau war alles voller wilder Kräuter, die einen atemberaubenden Duft verströmten und eine wohlige Entspanntheit bereitete. Die Gruppe diskutierte leise über philosophische Fragen und naturwissenschaftliche Dinge. Schlaue Kinder!
Nach dieser Pause setzen wir uns wieder in Bewegung, um unser nächstes Ziel, den Checker-Bunny-Strand, anzusteuern. Bis dorthin hatte das Team einige überaus schwierige Passagen zu durchklettern. In der tiefen, felsigen Schlucht war es richtig dunkel - und noch immer blieben die Taschenlampen in den Rucksäcken. Manche Kinder waren verständlicherweise etwas beängstigt, aber nicht mehr als bei strahlendem Sonnenschein.
Glücklich und sehr zufrieden an diesem von Zeltlagerteilnehmern so getauften kleinen Sandstrand unterhalb des Ranc Pointus angekommen, packten die Kinder die Badesachen aus und glitten um Punkt Mitternacht über die Felsen ins Wasser. Eine gute halbe Stunde wurde unter ständiger Beobachtung von Lena ausgiebig in der an dieser Stelle einige Meter tiefen Ardèche geschwommen. Ein überaus lautes Froschkonzert übertönte die schwimmenden Kinder um ein Vielfaches. Nach dieser willkommenen Abkühlung wurde sich über den mitgebrachten Proviant hergemacht. Weißbrotund Käse stillten den Hunger der sportlichen Mädchen. Nach dem Nachtisch, ein paar trockene Kekse, war wieder soviel Energie in den Kindern, dass eine zweite Schwimmrunde eingeleutet wurde. Schwimmend auf dem Rücken liegend wurden vom Wasser aus Sternschnuppen beobachtet und Sternbilder erklärt. Der große Wagen und die Kassiopeia wurden selbstverständlich sofort erkannt.
Die Zeit war weit vorangeschritten und so mussten wir uns schweren Herzens aufraffen, um ins Zeltlager zurückzukehren. Gerne hätten wir dort übernachtet, aber dies ist von den Behörden strengstens untersagt und wird hart bestraft. Eine Übernachtung in einem wirklich guten Hotel wäre da preiswerter.
Bis nach Sauze, einem zu Saint Martin d‘Ardèche gehörenden Weiler, mussten auch noch einige nicht einfache Passagen gemeistert werden. Ein kleiner, steiler, ungefähr zwanzig Meter langer Abstieg musste in vollkommender Dunkelheit begangen werden. Die berühmte Hand vor Augen sah man wirklich nicht. Langsam ließen bei einigen Teilnehmern die Kräfte nach. Diesen Punkt hatte ich schon hinter mir. Einmal wollte ein Fuß vor Schwäche von mir nicht mehr mit. Da man mit dem anderen Fuß alleine nicht mehr laufen kann, kugelte mein massiger Körper in ein mich rettendes Gebüsch, das mich vor dem Herunterfallen in die Schlucht schützte. Den Kindern passiert so was nie. Vielleicht liegt es an meinem Schwerpunkt, der sich doch erheblich von dem der Teilnehmer unterscheidet. Nach wenigen Sekunden, es können auch vierzig oder fünfzig mehr gewesen sein, stand ich wieder sicher auf den Füßen. Die Mädels waren ein wenig erschrocken, aber das legte sich ganz schnell.
Die letzten Kilometer bis ins Camp waren ein Kinderspiel. Vollkommen geschafft, aber glücklich, diese Tour gemacht zu haben, fielen die Kinder in ihren wohlverdienten Schlaf. Die nahe Kirchturmuhr schlug gerade drei Uhr. Lena war genau so platt wie ihre Kinder. Bei mir ging es eigentlich wieder. Ich habe mich heute Morgen nur gewundert, dass ich die Schuhe noch an den Füßen hatte und meine Wanderweste trug. Den Schuhen und meiner Weste hat es nichts ausgemacht...
Morgen werde ich dann die Gruppe Alex in der Nacht begleiten.